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Südsauerlandmuseum Attendorn Skulpturen des Mittelalters 1200 -1550 [II 843]
Büstenreliquiar (Südsauerlandmuseum Attendorn CC BY-NC-SA)
Herkunft/Rechte: Südsauerlandmuseum Attendorn / Ralf Breer (CC BY-NC-SA)
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Büstenreliquiar

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Beschreibung

Männliches Büstenreliquiar (hl. Johannes der Täufer?)

Die Büste zeigt einen bärtigen Mann, der frontal zum Betrachter blickt. Der Kopf sitzt auf einem kräftigen, kurzen Hals, der in einer weichen, wenig körperlichen Form zum Oberkörper überleitet. Das Gewand ist nur durch einen bandähnlichen Kragen angedeutet. Das kantige Gesicht ist unbewegte mit fest geschlossenen Lippen, hohen Wangenknochen und mandelförmigen Augen. Die Form der gratig gebildeten Augenbrauen wiederholt sich dreimal wellenartig in den Stirnfalten. Wulstige Haarsträhnen, meist durch eine Linie geteilt, fallen vom Mittelscheitel des Kopfes bis zum Hals. Die Haarstruktur ist dabei streng ornamental gegliedert: in drei Abschnitten fallen dicke, spitz endende Strähnen in einer leichten Welle nach unten und münden im Winkel der darunter liegenden beiden Haarsträhnen, die ebenso verlaufen. Abgeschlossen wird der Haarschopf von gegenläufigen, in einer Linie gelegten Löckchen. Die Stirn wird von je einer zur Seite gelegten und zwei kurzen in die Stirn fallende Strähnen gerahmt. Es wäre zu erwarten, dass die schneckenförmig gedrehten Löckchen und die breiten, ungegliederten Strähnen auch den Bart prägen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Eindeutige Spuren einer Abarbeitung des Bartes in späterer Zeit fehlen.

Eine genaue, stilkritische Betrachtung des Reliquienkopfes lässt eine Entstehung in frühgotischer Zeit erkennen. Die Umrissform der Büste mit kurzem, unorganisch gebildetem Hals und breiten, schematisch ausgearbeiteten Schultern ist seit dem 2. Viertel des 13. Jahrhunderts häufig zu finden. Vergleichsbeispiele hierfür sind das in dieser Zeit entstandene Büstenreliquiar eines unbekannten Heiligen im Hildesheimer Diözesanmuseum oder das des nach 1222 gearbeiteten hl. Antonius des Erzbischöflichen Diözesanmuseums Köln. Besonders das Kölner Beispiel zeigt interessante vergleichbare Motive zum Attendorner Reliquienkopf. Beide haben zwei kurze, in die Stirn fallende Haarsträhnen. Auch die drei weichen, dem Verlauf der Augenbrauen folgenden Stirnfalten sind ähnlich. Der Kinnbart ist erhaben von den Wangen gearbeitet, wogegen der Oberlippenbart erst durch die Gravur des vergoldeten Kupfers, bzw. durch eine Farbfassung erkennbar wurde. Die Wangeknochen sind markant ausgearbeitet und über den mandelförmigen Augen ziehen sich gratförmig die Augenbrauen.

Anders als die Büste des hl. Antonius, dessen Holzkern mit Buntmetall, Halbedelsteinen und Glassteinen verziert ist, war das Büstenreliquiar des Südsauerlandmuseums vermutlich nur farbig gefasst, denn es sind keine Spuren einer Vernagelung zu erkennen, die notwendig sind, um das Metall auf dem Holzkern zu befestigen. Ein weiterer Unterschied ist die Haarbildung des Attendorner Heiligen. Der altertümlich wirkende, ornamentale Charakter erinnert an plastische Werke der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, wie das Kopfreliquiar des Hl. Vitalis oder Candidus der Düsseldorfer Pfarrkirche St. Lambertus, das vermutlich um 1180 im Rheinland entstand. Die Haarbildung des Attendorner Büstenreliquiars scheint auf einen gewissen Anachronismus hinzuweisen. Die Nachahmung eines älteren Stils konnte dabei dem Wunsch Ausdruck verleihen dem Bildnis mehr Authentizität zu verleihen oder aber der Bezug auf ein Vorgängermodell sollte sichtbar sein.

Aus Holz geschnitzte und polychromierte Büsten sind erst seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nachweisbar. Eine Vielzahl von hölzernen Reliquienbüsten entstanden in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Köln, besonders im Zusammenhang mit der Verehrung der hl. Ursula und ihren 11.000 Jungfrauen. Hier gab es bereits eine lange Tradition in der Herstellung von Büstenreliquiaren, denn die Produktion dieses Reliquiartyps war in Deutschland in romanischer Zeit zunächst auf den westfälisch-niedersächsischen Raum und auf das Rhein-Maas-Gebiet konzentriert. Die Kölner Büstentypen des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts gleichen in der Grundform dem Heiligen des Südsauerlandmuseums, wogegen Gesichtstypus und Haarlockengestaltung keine Ähnlichkeit mit der Attendorner Plastik haben, was sowohl eine zeitliche wie auch geographische Distanz der Werkstätten erklären mag.

Ein Vergleich des Attendorner Büstenkopfes mit den im frühen 13. Jahrhundert entstandenen monumentalen Steinskulpturen im Paradies des Doms zu Münster zeigt gewisse stilistische Ähnlichkeiten, die eine Lokalisierung des Attendorner Reliquiars in den westfälischen Raum nahe legen. Hier wie da prägt eine etwas kastige Form des Gesichtes und ein breites Kinn den Kopf. Die Gesichter sind durch große Formen geprägt, die Augen, Mund, Nase und Ohren gestalten. Die Stirn ist flächig gearbeitet und die Haar setze sich wulstartig davon ab. Ebenso die Häupter Johannes des Täufers und des Apostels Paulus, die einst im blinden Radfenster im Giebel der Querschifffront des Doms zu Münster ihren Platz hatten (1. H. 13. Jh., heute im Domkreuzgang) zeigen eine bedingte Vergleichbarkeit.

Ein Indiz dafür, dass es sich bei dem Attendorner Reliquiar um ein recht frühes Exemplar handelt, ist die verhältnismäßig kleine Öffnung am Hinterkopf, die nach dem Einlegen der Reliquie versiegelt wurde. Nach den Untersuchungen von Birgitta Falk waren die Reliquiare vom 10. bis zum 12. Jahrhundert generell als geschlossene Behälter konzipiert. Die Reliquie sollte nicht sichtbar sein. Ihr Zweck war es die feierliche Mitte des Reliquiars zu bilden. 1204 kam die Schädelreliquie Johannes des Täufers aus Konstantinopel nach Amiens. In der byzantinischen Kunst war die Reliquie für den Gläubigen sichtbar und so brachte dieses wichtige Heiligenreliquiar neue theologische und künstlerische Impulse nach Europa. Seit Beginn des 13. Jahrhunderts setzte überall im Westen ein Prozess der Sichtbarmachung der Reliquien ein. Viele Büstenreliquiare haben nun deutlich erkennbare Deckel und Scharniere, um ihren Inhalt zu bestimmten Anlässen den Gläubigen öffentlich präsentieren zu können. Die frühen Kölner Holzbüsten zeigen eine zu öffnende Kalotte unter welcher der ausgehöhlte Kopf Platz für die Reliquie bot. In der Mitte der 1330er Jahre hatte die Produktion der hölzernen Reliquienbüsten in Köln einen perfekten Stand erreicht, wie es Ursula Bergmann beobachtet. Die durchgehende Aushöhlung durch Aufschneiden der Büste in zwei hälften ermöglichte nun eine vollständige Ausnutzung zum Einlegen der Reliquien. Mit dem Öffnen der Büste durch Fenster in gotischem Formgut war schließlich eine permanente Sichtbarmachung der Reliquie erreicht.

Protokolle über das Öffnen des Attendorner Büstenreliquiars, die Aufschluss über die Reliquien geben könnten, sind nicht erhalten. Schriftbeigaben wurden beim öffnen des Büstenkopfes im Rahmen der Restaurierung 1971 nicht gefunden. Die Attendorner Pfarrkirche scheint nicht der ursprüngliche Aufstellungsort des Reliquiars gewesen zu sein, da die Büste, die zuletzt als Johannesreliquiar verehrt wurde, in dem 1903 erstellen Denkmalverzeichnis von Westfalen für Attendorn nicht aufgeführt wird. Die Benennung des Heiligen bleibt damit unklar. In ihrer Funktion wird das Reliquiar aber, ähnlich andernorts überliefertem Gebrauch, wie z. B. dem ältesten in Deutschland erhaltene Exemplar, dem goldene Büstenreliquiar des Apostels Paulus im Dom zu Münster, vermutlich auch zur Ostensio reliquiarum am liturgischen Fest der Heiltumsweisung, der jährlichen Wiederkehr der Translatio und am Kirchweihfest gedient haben. Insbesondere in Zeiten der Not erbaten die Gläubigen bei festlichen Prozessionen Hilfe und Fürsprache von Heiligen, in dem sie ihre Reliquien mitführten und so den Vorbildern im Glauben besonders nahe waren.

Material/Technik

Holz (Pappel?)

Maße

H 35 cm,;B 37 cm; T 18 cm

Literatur

  • Arens, Andrea (Bearb.) (2008): Skulpturen des Mittelalters 1200 bis 1550 : die Sammlungsbestände des Südsauerlandmuseums Attendorn / Hrsg. Südsauerlandmuseum, Museum für Kunst- und Kulturgeschichte des Kreises Olpe in Attendorn. Berlin, S. 21-25
Südsauerlandmuseum Attendorn

Objekt aus: Südsauerlandmuseum Attendorn

Der volle Name des Museums lautet "Südsauerlandmuseum Attendorn - Museum für Kunst- und Kulturgeschichte des Kreises Olpe in Attendorn" Das...

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