Am Vorabend des Johannistages, dem 24. Juni 1912, besuchte Hans Thoma ein letztes Mal sein Heimatdorf Bernau im Schwarzwald und erlebte dort einen ungewöhnlich prachtvollen und ergreifenden Sonnenuntergang.
Ein Jahr später und aus seiner Erinnerung schöpfend malt er diese abendliche Landschaftsstimmung in gedämpften, rötlich-grünen Farbvaleurs und in fast zeichnerisch anmutendem Pinselduktus. Trotz der tiefenräumlichen Staffelung der Landschaft wirkt das Bild durch die betonten Konturlinien, die gemilderten Farbkontraste und den dünnen Farbauftrag sehr flächig. Der Verzicht auf menschliche Gestalten, die sonst seinen bäuerlichen Landschaftsszenen einen anekdotischen oder metaphorischen Gehalt geben, verleiht dem Gemälde eine feierliche Ruhe und fast zeitlose Wahrhaftigkeit. Auf dem nach Thomas Entwürfen geschnitzten Bildrahmen finden sich allerdings figürliche Darstellungen, die zusammen mit den floralen Ornamenten auf den Zyklus der Lebensalter und der Jahrezeiten verweisen.
Im Jahr seiner Entstehung, als sich in Berlin die internationale Avantgarde expressionistischer, kubistischer und futuristischer Kunst im berühmt gewordenen Ersten Deutschen Herbstsalon präsentierte, musste ein Gemälde wie "Johannisabend" zutiefst anachronistisch wirken. Doch als spätes Meisterwerk eines der bekanntesten und volkstümlichsten deutschen Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts, der schon früh seinen Stil fand und diesem Zeit seines langen Lebens treu blieb, hat es seinen Platz in der Kunstgeschichte gefunden. S.B.